Duitsland-Dossier
Deutscher Stress (Die Nachkriegszeit ist vorbei)
Die deutschen Wähler setzten die etablierte Ordnung unter Druck. Von außen macht Donald Trump dasselbe. Dadurch steht plötzlich alles zur Diskussion, einschließlich einer deutschen Atombombe und einem deutsches Europa.
Syp Wynia
„Wir Deutschen sind die besten“, tönt es plötzlich aus dem Mund unseres Museumsführers, einem pensioniertem Militärangehörigen, im Haus der Geschichte in der ehemaligen westdeutschen Hauptstadt Bonn. „Denn“, so fährt er fort, „fast jeder deutsche Schüler will doch Europäer sein und wir Deutschen haben beim Umweltschutz unsere Nase ganz vorn. Außerdem sind wir auch noch eine siegreiche Fußballnation.”’
Aber der Sprecher verbessert sich auch sofort wieder, ganz auf einer Linie mit der nationalen Selbstkorrektur-Kultur seit 1945: „Es gibt auch kein Land, das so von Europa profitiert – und wir sind zwar gut im Abfall trennen, aber wir gehören auch zu den größten Verschmutzern. Und bei der Fußballweltmeisterschaft hat sich in diesem Sommer gezeigt, dass wir nicht so unfehlbar sind. Wir haben mit dem Fußballspieler Mesut Özil, der sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren ließ, sogar noch eine Debatte über die Integration von Ausländern dazu bekommen.“
Kein Land, das so eifrig mit dem endlosen Wiederholen der eigenen Geschichte und der eigenen Identität beschäftigt war, wie das Nachkriegsdeutschland. Zahlreiche Einrichtungen wie auch dieses Haus der Geschichte liefern dazu ihren Beitrag. Die dazu passende Ausstellung heißt in diesem Sommer „Deutsche Mythen seit 1945“, mit einer Reise entlang Krieg und Zerstörung und Nachkriegszeit, vorbei an Adenauer, Volkswagen und der Mannschaft über Wiedervereinigung zu Angela Merkels „Wir schaffen das“.
Oder nicht, natürlich.
Denn das aktuelle deutsche Selbstbild ist nicht mehr unbedingt das sorgfältig kultivierte Selbstbild wie es die Führung von Westdeutschland in der Nachkriegszeit gerne sah und sieht. Die Nachkriegszeit ist schon oft als vollendet bezeichnet worden, zum ersten Mal 1965 von Bundeskanzler Ludwig Erhard, zwanzig Jahre nach Kriegsende. Aber zum Beispiel auch 2004 und 2005 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, als der erst in die Normandie und dann nach Moskau fuhr, um mit den ehemaligen Alliierten ihrem Sieg zu gedenken. Oder 2006, als die Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand und Deutschland von sich selbst feststellte, dass das Land sozusagen wie in einem „Sommermärchen“ endlich unkompliziert fröhlich und selbstbewusst sein konnte und also „normal“ geworden war.
Aber wenn die Nachkriegszeit wirklich vorbei ist, dann ist das eher jetzt, im Jahr 2018, und zwar nicht nur, weil sich das Deutschland von heute allmählich anders zeigt als das Deutschland von nach dem Krieg oder das nach der deutschen Wiedervereinigung 1990.
Denn nicht nur Deutschland scheint die Nachkriegszeit hinter sich gelassen zu haben, das gleiche gilt auch für die internationale Umgebung, insbesondere für die Vereinigten Staaten, die Westdeutschland nach dem Krieg als eine Art Protektorat an die Hand nahmen, es vor rachesüchtigen Nachbarländern in Schutz genommen haben – Frankreich voran – und dem Land finanziell beistanden, Schulden erließen und es in ein europäisches Zusammenarbeitsprojekt aufnehmen ließen.
Die Vereinigten Staaten haben seit Anfang 2017 mit Donald Trump einen Präsidenten, den die Vorgeschichte nicht im geringsten interessiert, der Deutschland vorwirft, billig auf dem amerikanischen militärischen Schutz mitzureisen, wohl aber massenweise deutsche Autos auf den amerikanischen Markt schickt und in der Zwischenzeit die Russen mit dem Ankauf von Erdgas am Mästen ist, während der Schutz vor den Russen den Amerikanern überlassen wird.
So ganz unrecht hat Trump sicher nicht, aber das deutsche Establishment reagiert perplex, wie ein Kind, das aus dem Elternhaus geworfen wird. Das ändert nichts daran, dass Trump einen Stein in den deutschen Teich geworfen hat, was unter anderem dazu führte, dass in diesem Sommer eine ziemlich ernste Debatte hinsichtlich der Frage entstanden ist, ob Deutschland vielleicht eine eigene Atombombe braucht. Und das wohlgemerkt in einem Land, das Atombomben so sehr fürchtete, dass es infolgedessen auch einen Widerwillen gegenüber Atomenergie entwickelte.
Auf der einen Seite gibt es also die Emanzipation eines Landes, das seit 1945 versucht, sich vorbildlich moralisch, ethisch, friedfertig, schuldbewusst und bereit zur Buße zu zeigen und dabei hofft, indem es sich des Weiteren sowohl durch wirtschaftliche als auch durch sportliche Leistungen auszeichnet, auf diese Weise akzeptiert und geschätzt zu werden. Aber allmählich hat dasselbe Land auch genug davon, immer wieder klein und aufopferungsbereit zu sein. Und auf der anderen Seite gibt es also die Außenwelt, an erster Stelle Washington, die Deutschland zwingt, das normale Land zu werden, das es vielleicht schon zu sein glaubte.
Aber Deutschland hat selbst also auch die Nachkriegszeit hinter sich gelassen und oft auch mehr als dem Establishment der Nachkriegszeit in Politik, Wirtschaft und den Medien vielleicht lieb ist. Der größte Schock ist zweifellos durch die die junge Partei Alternative für Deutschland (AfD) verursacht worden, die man noch gerade nicht als extrem rechts, aber doch schon als “rechtspopulistisch” bezeichnet wird und die vor einem Jahr in den Bundestag einzog – sofort als dritte Partei. Inzwischen stellt sie die größte Oppositionspartei dar und ist laut Umfragen auch größer als die sozialdemokratische Koalitionspartei SPD. Der CDU droht ein Zweikampf mit den Parias der AfD.
Auch die Christdemokraten der CDU und CSU haben, vergleichbar den Entwicklungen in einem Land wie den Niederlanden, unter dem Rechtsruck und dem Auseinanderfallen des politischen Zentrums zu leiden. Wenn es, vielleicht etwas später als in anderen europäischen Ländern, ein sehr schwieriges Thema gibt, das auch in Deutschland als Katalysator für das Unterminieren des politischen Establishments fungiert, dann ist es das Thema Migration, oft im Zusammenhang mit dem Islam, Europa und dem Euro.
Das sind in ganz Westeuropa sensible und emotionale Themen, aber ganz bestimmt in Deutschland, das immer versuchte, vorbildlich zu sein, wenn es um das Aufnehmen von Migranten und ein selbstloses und idealistisches Aufgehen in einem Vereinigten Europa ging. Denn Deutschland wollte doch zeigen, dass es nicht inhärent schlecht war, sondern pazifistisch, solidarisch, bescheiden und wenn es sein musste sogar demütig?
Charles de Gaulle, von 1959 bis 1969 französischer Präsident, schloss 1963 Friede und Freundschaft mit dem Deutschland von Konrad Adenauer, dem Bundeskanzler, den man als Vater des Vaterlandes der Nachkriegs-Bundesrepublik sehen kann. Ihr Elysée-Vertrag war insofern merkwürdig, weil Frankreich und Westdeutschland schon seit 1950 zusammen in der Europäischen Gemeinschaft arbeiteten und seit 1955 Nato-Bündnispartner waren. Aber de Gaulle hatte die Absicht, die Amerikaner auf Distanz, die Briten aus der EWG sowie die Deutschen unter der Fuchtel zu halten und so den verblichenen französischen Glanz wieder aufzupolieren.
De Gaulle hat einmal gesagt – und es war nicht wirklich ein Scherz – , dass innerhalb der EWG Deutschland das Pferd sei und Frankreich auf dem Kutschbock sitze, um das Pferd zu lenken. An dieser Rollenverteilung hat sich in den ganzen Nachkriegsjahren eigentlich nicht viel geändert.
Der Fall der Mauer 1989 und die deutsche Vereinigung 1990 fand zwar gegen den Willen des französischen Präsidenten Francois Mitterrand statt und auch die von Deutschland gewünschte Erweiterung der Europäischen Union nach Osten war gegen den Willen Frankreichs: aus Furcht vor einem zu mächtigen Deutschland und aus Furcht davor, Deutschland nicht mehr im Griff zu haben.
Aber Frankreich bekam doch den Euro und Deutschland musste die eigene geliebte D-Mark aufgeben. Frankreich holte mediterrane Länder in die Eurozone, wodurch Deutschland immer wieder überstimmt wurde und Frankreich erzwang die Rettung von Euroländern wie Griechenland und Italien. Sehr viele Unterschiede, wo es um das Verhältnis zu Deutschland geht, gibt es so betrachtet zwischen de Gaulle, Mitterrand und dem heutigen französischen Präsidenten Emmanuel Macron nicht
Von französischer Seite wird immer – manchmal subtil, manchmal in deutlicheren Worten – und oft unter dem Motto “Solidarität“ auf die deutsche historische Schuld verwiesen. Eigentlich auch jetzt wieder, um die Eurozone weiter nach französischen Vorstellungen als eine Einheit einzurichten, in der Staatsschulden, Bankenrisiken und wirtschaftliche Rückschläge geteilt werden. Von Deutschland – mit niederländischer Unterstützung – erzwungene Verhaltensregeln für den Euro erweisen sich, wenn es darauf ankommt, jedes Mal als zum Scheitern verurteilt.
Und obwohl die Bundeskanzlerin Angela Merkel oft als die neue mächtige Führerin von Europa und Frankreich als schwindender Machtfaktor dargestellt wird, und tatsächlich viel öfter Deutsche in europäischen Machtpositionen verkehren, ist es eine unbestrittene Tatsache, dass Merkel letztendlich fast immer französischen Wünschen entgegen kommt – wie früher auch Kohl und Schröder.
Der Koalitionsvertrag, den Merkel vor einem halben Jahr mit dem damaligen SPD-Chef und ehemaligen Vorsitzenden des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, verfasste, atmet die Hingabe, gemeinsam mit Frankreich eine führende Position hinsichtlich einem weiteren Prosperieren der europäischen Einheit einzunehmen. Schulz ist inzwischen auf dem Abstellgleis gelandet und lediglich Backbencher in der Bundestagsfraktion der SPD. Er war jedoch schon zu Besuch bei Präsident Macron im Elysée-Palast.
Migration und der Euro sind die Schlüsselbegriffe, die Deutschland in eine neue Phase seiner Geschichte bringen, „Trump“ kommt als entscheidender externer Faktor noch hinzu. Deutsche Bürger haben nicht um den Euro gebeten, sondern mussten ihn schlucken, um Paris nicht in einer Phase zu brüskieren, in der auf jeden Fall der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl dachte, es nicht ohne die französische Freundschaft schaffen zu können.
Migration, Asyl und der Islam waren lange praktisch Tabuthemen in einem Land, das unter dem Erbe von Rassismus und Völkermord litt. Dass Angela Merkel die deutschen Grenzen vor drei Jahren öffnete (“Wir schaffen das”) muss folglich auch im Kontext ihrer Angst gesehen werden, das deutsche Asylthema könnte bei den Anhängern von extrem rechts landen.
Merkel bezahlt jetzt schon seit einiger Zeit den Preis für ihre Flucht nach vorn von 2015. Die Gefahr bei den Wahlen von Seiten der AfD – gegründet gegen die Rettung des Euro, aber durch Merkels Asylpolitik erst richtig groß geworden – verschärfte den Anti-Asylkurs der bayerischen CSU, die bei den kommenden Landtagswahlen in Bayern im Oktober die Konkurrenz der AfD fürchtet. Das führte in diesem Sommer fast zu einer Kabinettskrise in Berlin und bedeutet ein Risiko, das auch nach dem Sommer noch bestehen wird.
Merkel sagte kürzlich, dass sie ihre vierte Amtsperiode als Bundeskanzlerin aussitzen will – was schon an sich vielsagend ist, weil das anscheinend nicht mehr selbstverständlich ist. Jetzt wollen auch die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD natürlich das Vollenden der Kabinettsperiode.
Nicht dass die Regierungsparteien so verrückt aufeinander sind, aber aus Angst vor verfrühten Bundestagswahlen halten sie einander krampfhaft fest. Wobei die SPD möglicherweise noch Konkurrenz von Sahra Wagenknecht, von der ehemaligen kommunistischen Partei Die Linke, bekommt, die gerade eine links-populistische Alternative zur AfD am Gründen ist – und den Sozialdemokraten damit einen extra Schlag versetzen könnte.
Wenn die deutsche Nachkriegszeit denn wirklich vorbei ist, Deutschland nun endlich ein normales europäisches Land geworden ist und von Donald Trump auch als ein normaler Konkurrent behandelt wird, dann werden die Folgen nicht nur auf Deutschland beschränkt bleiben.
Wenn die Gemütslage von Deutschland nicht – oder wenigstens weniger – durch Erbschuld, Scham oder Buße bestimmt wird, fällt damit auch die wichtigste Stütze für die europäische Vereinigung weg.
Die Amerikaner haben ab 1948 mit der europäischen Integration begonnen, da sie Deutschland im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, den neuen Feind, brauchten. Aber das Amerika von Trump interessiert sich nicht für die europäische Einheit und will, dass Deutschland für seine Verteidigung und Waffen bezahlt und Erdgas in den Vereinigten Staaten kauft. Und Deutschland, das selbst die europäische Einheit mit Polen, Ungarn und anderen Ländern wollte, die für Deutschland als Prellbock zu Russland dienen können, liegt jetzt andauernd mit eben diesen Ländern im Clinch. Diese Länder wollen keine Bevormundung aus Brüssel, akzeptieren jedoch auch keine neue deutsche Bevormundung.
Frankreich, das viel vom deutschen Eifer profitierte, sich das Wohlwollen der Franzosen zu erhalten, wird bald merken, dass ein Deutschland, in dem das politische Establishment der Nachkriegszeit am Schwanken ist, nicht mehr automatisch bereit ist, selbstlos Zahlmeister von Europa zu sein und als Pferd einem französischen Kutscher zu dienen.
Die größte Frage von allen ist vielleicht die, wie Deutschland nach der Hitlerzeit und dem Holocaust jetzt die eigene Nachkriegszeit verarbeiten wird. Das Land erlebte ja im vergangenen Jahrhundert ein beispielloses kollektives Experiment: voller Selbstvertrauen stürzte man sich in den Ersten Weltkrieg, wurde danach gedemütigt und geschröpft, hatte aus Groll noch einen katastrophaleren Krieg angefangen, den wieder verloren und war danach vor allem moralisch in seine Schranken gewiesen worden.
Was vor allem letzteres mit der deutschen Identität und dem Selbstbild der folgenden Generationen gemacht hat und noch immer macht, ist eine offene Frage. Was aber das deutsche Gemüt sicher nicht beruhigt, ist die Neigung – insbesondere in mediterranen, aber auch in osteuropäischen Ländern – um immer wieder auf Hitler und den Holocaust zurückzukommen – eine Geschichte, von der sich immer weniger Deutsche Zügel anlegen lassen wollen.
Das von Hitler und dem Holocaust gezeichnete deutsche Erbe darf keineswegs vom Tisch gefegt werden, im Gegenteil. Aber der andauernden moralischen und materiellen Ausbeutung dieses Erbes, sowohl von innen als von außen, aus anderen Ländern, sollte auch ein Ende gesetzt werden, auch um das Entstehen neuer Ressentiments zu verhindern.